Lieber Zwurg,
an die Regel, dass Männer nur Hosen und keine Röcke tragen, hast Du Dich aber nicht immer gehalten.
Und bleibst Du als Fußgänger immer an jeder roten Ampel stehen, auch wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist?
Es gibt ja Regeln von unterschiedlicher Wichtigkeit. Die Regel, niemanden zu töten, ist sehr viel wichtiger, als die Regel, bei offiziellen Anlässen Anzug mit Krawatte zu tragen.
Regeln ändern sich aber auch. Als die Grünen die Regel, im Bundestag keine Jeans und Turnschuhe zu tragen, missachteten, hatte das zur Folge, dass nach und nach solche Kleidungsregeln lockerer wurden. Oder wie war es mit der Regel, dass Frauen im Bundestag Röcke tragen, die von - habe gerade den Namen vergessen - von einer Abgeordneten missachtet wurde. Und heute kräht kein Hahn mehr nach dieser damaligen Regel. Ah, diese Dame war es:
https://de.wikipedia.org/wiki/Lenelotte_von_BothmerKennst Du die migrationswissenschaftlichen Fachbegriffe "Assimilation", "Integration" und "Inklusion"?
"Assimilation" heißt, dass Einwanderer ihre Herkunftsidentität aufgeben und die Identität der Aufnahmegesellschaft annehmen.
"Integration" heißt, dass Einwanderer ihre Herkunftsidentität behalten, zusätzlich die Identität der Aufnahmegesellschaft annehmen und die Aufnahmegesellschaft sich dabei aber nicht ändert.
"Inklusion" heißt, dass, dass Einwanderer und Aufnahmegesellschaft sich aufeinander zu bewegen, sich dabei verändern und nach und nach eine neue, gemeinsame Gesellschaft bilden.
Welche der drei Vorgehensweisen würdest Du bevorzugen:
a) als Mitglied der Aufnahmegesellschaft?
b) als Einwanderer?
Zu den vielen neuen Begriffen: Je differenzierter man sich mit einer Sache beschäftigt, desto mehr Wörter braucht man. Fachleute haben immer mehr Begriffe für ihr Fach als Nichtfachleute. Betroffene haben meistens auch mehr Begriffe für das, wovon sie betroffen sind, als Unbeteiligte.
Was Du erlebst ist, dass Du mir vielen neuen Wörtern konfrontiert wirst, die einen Bereich betreffen, von dem Du weder betroffen bist, noch für die Du Fachmann bist. Und dennoch gibt es Menschen, die von Dir erwarten, sie zu lernen und aktiv und passiv zu beherrschen. Das überfordert Dich, nicht weil es an Dir an Intelligenz mangelt, sondern weil die neue Differenzierung Dein einfacheres Weltbild, mit dem Du gut zurechtkommst, in Frage stellt. Dagegen wehrst Du Dich.
Ich würde es mal so sagen: Keiner darf Dich zwingen, Dein Weltbild zu erweitern und stärker auszudifferenzieren. Aber Du darfst Betroffenen und Fachleuten auch nicht verbieten, es trotzdem zu tun. Und Du darfst auch Betroffenen und Fachleuten nicht verbieten, ihr Anliegen in die Öffentlichkeit zu bringen. Du kannst ja sachlich dagegen argumentieren. Aber dazu musst zu auch Fachmann werden. Und wenn Du Dich dann intensiver damit beschäftigst, kannst Du ja mal gucken, ob Du bei zwei Begriffen bleiben oder doch ein paar mehr Vokabeln lernen willst.
Du fragst, warum man es immer "Geschlecht" nennen muss. Da ist Dir dann das eine Wort doch nicht genug, und Du willst differenzieren. Und genau deshalb unterscheidet man zwischen "Sex" und "Gender", zwischen biologischem und sozialem/kulturellem Geschlecht. Letzteres hat mit Rollenbildern zu tun, mit Konventionen, mit Regeln. Da gibt es traditionelle Regeln für Männer und Regeln für Frauen. Und es gibt Menschen, die mit diesen Regeln nicht einverstanden sind, sondern gerne etwas so machen würden, wie es den Regeln für das andere Geschlecht entspricht: z.B. als Frau einen Männerberuf ergreifen oder als Mann Röcke tragen. Solange das nur eine Regel ist, die man für sich ändern möchte, ist es noch einigermaßen unproblematisch. Will man aber sehr viele gegengeschlechtliche Regeln selbst ausleben, bewegt man sich in Richtung Transgender. Und dann mag man biologisch noch so sehr das eine sein, empfindet sich aber sozial als das andere - oder als etwas dazwischen oder außerhalb (so ähnlich begrüßt Böhmermann immer seine Gäste). Und manche wechseln hin und her.
Und dann wäre es vielleicht tatsächlich einfacher, einen Begriff für alle zu finden, der sie alle zusammenfasst trotz oder wegen ihrer Unterschiede. Ich schlage vor: "Menschen". Nimm einen Menschen als Mensch, dann brauchst Du nicht mehr so viele Vokabeln zu lernen. Sage zum Cis- und zum Transgender, zum Genderfluiden, zum Genderlosen oder zu wem auch immer: "Mir egal, was du im Detail bist, ich respektiere dich als Mensch."
Natürlich haben wir noch eine Menge anderer, nicht-biologischer Identitäten, wie ethnische, nationale, regionale, städtische, religiöse, weltanschauliche, berufliche, familiäre, hobbybezogene usw. usf. Aber alle sind wir Menschen, die gerne respektiert werden wollen.
Oder?
LG, Micha